Momo in Zeiten der Digitalisierung

In dem Roman Momo von Michael Ende müssen die Kinder einer namenlosen Stadt erleben, wie ihre Eltern immer weniger Zeit haben – und das, obwohl sie versuchen, Prozesse zu beschleunigen und dadurch möglichst Zeit zu sparen. Obwohl sich die Erwachsenen also immer schneller abstrampeln und Aufgaben immer fixer erledigen, haben sie keine Zeit mehr für sich und ihre Kinder, keine Zeit mehr für das Wertvolle und Wichtige im Leben. Wie kann das sein?

In dem berühmten Kinderbuch sind es die grauen Herren von der Zeit-Sparkasse, die den Menschen ihre Zeit stehlen. Dabei lassen sich diese Zeitdiebe als gesellschaftliche Institutionen verstehen, als Denkmuster und Verhaltensweisen, die in jedem von uns wohnen. Diese grauen Herren in uns drängen beständig darauf, dass wir uns beeilen, um Zeit zu gewinnen. Am Ende jedoch verrinnt die Zeit gerade deshalb zwischen unseren Händen.

Technologie und das Verrinnen der Zeit

Zu diesem Verrinnen kann auch die Technologie beitragen. Ihr zentrales Versprechen ist es, unser Leben bequemer zu machen und uns Zeit zu schenken. Ein vertrautes Beispiel ist die Waschmaschine. Es ist schier unglaublich, wie viel Lebenszeit wir durch diese Technologie sparen. Allein durch die Waschmaschine haben wir pro Woche mehrere Stunden mehr Zeit, um… ja, wofür eigentlich?

Die Hoffnung ist es, mehr Zeit zu haben für das, was wirklich wertvoll und wichtig ist. Das bedeutet, sein eigenes Leben aktiv zu genießen oder sich fürsorgend auf seine Mitmenschen zu beziehen. Durch Technologien wie die Waschmaschine könnten wir Zeit gewinnen, um uns gegenseitig zuzuhören, ein weiteres Hobby anzufangen, uns gesellschaftlich zu engagieren oder ein gutes Buch zu lesen. Auf diese Weise können wir unser eigenes Leben oder dasjenige anderer bereichern und die „gewonnene“ Zeit tatsächlich zu einem Gewinn machen. Leider tun wir gerade dies viel zu selten und verbringen die Zeit eher damit, noch mehr Zeit zu sparen durch einen schnellen Einkauf im Supermarkt oder den kürzesten Weg zum Fitnessstudio. Dank der unzähligen Optimierungen und zeitsparenden Technologien müssten wir wahre Zeit-Könige sein, doch wird Zeit als Ressource immer knapper. Grund ist die Art und Weise, wie wir Technologie in Gesellschaft und Privatleben integrieren. Zu oft hören wir auf die grauen Herren in uns. Wir nutzen die gewonnene Zeit nicht, um zu leben, sondern um noch mehr Lebenszeit einzusparen. So sparen wir uns – buchstäblich – zu Tode.

Aktuell drängt im Zuge der Digitalisierung eine ganze Flut vermeintlich entlastender und zeitsparender Dienstleistungen in unseren Alltag: Das nächste Paar Schuhe ist im Netz nur noch ein paar Klicks entfernt, das zeitintensive Shoppen in überfüllten Innenstädten entfällt. Apps synchronisieren sich geräteübergreifend im Hintergrund und ohne unser Zutun, erinnern uns an Geburtstage und stellen automatisch Packlisten für Urlaube zusammen. Wenn sich die gegenwärtigen Prophezeiungen einer raschen Markteinführung bewahrheiten, könnte uns in naher Zukunft auch das selbstfahrende Auto Lebenszeit schenken, in Deutschland hochgerechnet mehrere Milliarden Stunden jährlich. Diese Zeit hätten wir zur Verfügung, um uns zu entspannen oder um aus dem Auto heraus Dinge zu erledigen, die wir dann zuhause nicht mehr zu erledigen brauchen, so dass wir dort wiederum entspannen können. Das klingt gut. Die Gefahr ist allerdings, dass wir all die gewonnene Zeit nutzen, um immer mehr Dinge zu erledigen, Erlebnissen nachzujagen und Verpflichtungen einzugehen. Wenn wir während der Fahrt arbeiten, konsumieren und dreißig WhatsApp-Nachrichten schreiben, könnten wir durch das selbstfahrende Auto gestresster am Ziel ankommen als heute – und das, obwohl wir uns nicht mehr im Berufsverkehr aufzuregen brauchen. Ähnliches gilt für Kühlschränke, die für uns Lebensmittel kaufen, Heimroboter, die für uns putzen oder smarte Formulare, die uns die Bürokratie erleichtern. Überall lockt Erleichterung, Entlastung und gewonnene Zeit. Ob sich diese Hoffnung erfüllen wird, bleibt abzuwarten und wird auch von uns selbst abhängen.

Wir werden gedrängt, die Zeit zu verdichten

Es wird uns allerdings nicht leichtgemacht, den grauen Herren in unseren Köpfen das Handwerk zu legen und einen neuen Umgang mit Technologien einzuüben, einen Umgang, der tatsächlich mehr Raum für das Wesentliche im Leben schafft.

Viele digitale Dienstleistungen werden gerade mit dem Ziel entwickelt, das Leben weiter zu verdichten.

In Bezug auf das Beispiel des selbstfahrenden Autos etwa wird schon fleißig daran gearbeitet, die Fahrzeuge zu fahrenden Arbeitsplätzen und Konsumenklaven zu machen. So werden wir ständig verlockt, die gewonnene Lebenszeit als ökonomische Produktivzeit zu nutzen. Und oftmals werden wir nicht nur verlockt: Es wird auch von uns erwartet. Kaum eine Arbeitnehmerin kann die durch Verlagerung von Briefverkehr auf Email gewonnene Zeit nutzen, um ihre Aufgaben ruhiger und langsamer auszuführen oder früher nach Hause zu gehen. Stattdessen wird auf eine Arbeitszeitverdichtung gedrängt. Diese verdichtete Zeit wird undurchdringlicher, sie bekommt weniger Lücken zum Atmen und weniger Fenster zur Welt und zu uns selbst. Wir haben keine Zeit mehr, innezuhalten und die Welt auf uns wirken zu lassen. Stattdessen beginnt sie in einem atemlosen Film an uns vorbeizurauschen. Wohlgemerkt: vorbei, anstatt durch uns durch. So erfahren wir unser Leben kaum noch als zeitlich und fließend, sondern als dicht und starr. Wir haben keine Zeit mehr, der eigenen Zeit in uns nachzuspüren und auf den Grund zu gehen. So wird uns der Ort versperrt, an dem Momo in ihrem eigenen Herzen die Zeit-Blüten entstehen und vergehen sieht.

Was Momo besonders gut kann und sie damit zur Heldin im Kampf gegen die Zeitdiebe werden lässt, ist ihre Fähigkeit, zuzuhören. Um wirklich der Welt und den Menschen zuzuhören, sie also intensiv wahrnehmen und auf sich wirken zu lassen, braucht man innere Ruhe und Zeit.

So können wir das Leben in uns selbst schlagen hören und eine Verbindung erfahren, die der Sozialphilosoph Hartmut Rosa als Resonanz bezeichnet. In der ungebremsten und ständig neue Höhen erklimmenden Zeitsparerei hingegen geht uns diese Offenheit verloren. Wir erfahren die Welt als stumm. Die dichte Zeit hat sich als Mauer zwischen uns und die Welt gestellt. Wir dringen nicht mehr durch zur Welt, sie wird uns fremd.

Die Digitalisierung könnte auch Räume für das Wesentliche schaffen

Eine solche Entfremdung ist keine zwangsläufige Folge von Technologie. Die Fragen sind vielmehr, erstens wie Technologien im Detail gestaltet sind, zweitens welche Rolle sie in der Gesellschaft spielen und drittens wie wir selbst mit ihnen umgehen. Die Digitalisierung könnte auch Freiräume schaffen, in denen wir verweilen, einander zuhören und Resonanz erfahren. Damit das möglich ist, müssen wir uns gerade diese Zeit aber auch tatsächlich nehmen, wir müssen sie selbstbestimmt erobern, anstatt uns von den Zeitdieben beherrschen zu lassen. Ein Zeitdieb ist dabei in den seltensten Fällen ein Prozess, der vermeintlich unnötig lange dauert und den es nun zu beschleunigen gilt. Vielmehr ist der eigentliche Zeitdieb meist die Beschleunigung selbst. So geht es also keineswegs darum, die Digitalisierung schlechtzureden, den sogenannten Fortschritt aufzuhalten oder gar das Rad der Zeit zurückzudrehen. Aber ohne ein Umdenken über die Beziehung zwischen Gesellschaft und Technologie, wie auch deren Rolle in unserem Privatleben, ist eine tatsächliche Entlastung und Mehrzeit für das Wertvolle im Leben unwahrscheinlich.

Zeit zu sparen, ist nur von Wert, wenn wir in der gewonnenen Zeit Dinge tun, die um ihrer selbst willen wertvoll sind. Wenn wir die gewonnene Zeit jedoch selbst wiederum nutzen, um Prozesse zu optimieren und um immer mehr Handlungen oder Erlebnisse in unser Leben zu stopfen, sind wir den grauen Herren auf den Leim gegangen. Wir folgen dann dem Prinzip der, so Niklas Luhmann, zielvariablen Tempoideologie: Das Ziel selbst verliert an Wichtigkeit. Alles was zählt, ist, dass wir es schnell erreichen. Unsere Energie verwenden wir auf die Optimierung der Mittel, reflektieren aber kaum noch über die Ziele. In der Folge lassen wir uns nicht mehr auf die Gegenwart ein und erfahren unser Leben als flach und stumm. Wir hasten vorwärts, sind gedanklich immer schon einen Schritt weiter, leben im vorauseilenden Morgen. Auf diese Weise, stellt auch der Philosoph Rüdiger Safranski in seinem erhellenden Essay Zeit fest, wird die Beschleunigung unseres Lebens so drastisch, dass die Zukunft immer schon begonnen hat. Am Ende dieses rastlosen Falls in die Zukunft hinein steht jedoch der Tod. Die Quellen eines möglichen Sinns in unserem Leben liegen daher in derjenigen Gegenwart begründet, welcher wir kaum noch Beachtung schenken.

Wie auch andere Technologien wird die Digitalisierung uns also nicht automatisch mehr lebenswerte Zeit schenken. Dies wird abhängig sein von der Ausgestaltung digitaler Produkte und Services, von gesellschaftlichen Strukturen, aber eben auch von uns selbst. Eine Voraussetzung für einen echten Zeitgewinn ist es, bei aller Begeisterung für die Digitalisierung nicht zu vergessen, wofür wir uns eigentlich entlasten und Zeit sparen wollen. In den seltensten Fällen dürfte dies die Nutzung weiterer Apps sein.

 

Bücher:
Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp, 2016.
Rüdiger Safranski: Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen. München: Carl Hanser, 2015.

Der Gastautor Christian Uhle ist Philosoph und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW). In der Nachwuchsgruppe „Digitalisierung und sozial-ökologische Transformation“ untersucht er, welche Menschenbilder und Vorstellungen vom Guten Leben in den Zukunftsvisionen digitalisierter Mobilität enthalten sind. Die Arte-Sendung „Streetphilosophy“ unterstützt Christian als philosophischer Berater dabei, lebenspraktische Fragestellungen aus einer philosophischen Perspektive zu beleuchten. Weitere Infos auf www.christian-uhle.de.

Beitragsbild: Photo by Loic Djim on Unsplash, CC

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