Nicht überall wird für Geflüchtete demonstriert (Some rights reserved / Attila Szervac)

Wir fangen den Hass der Straße ein

“…aber wenn das Volk aufsteht, dann gnade euch Gott!”

„Asylantenschwindler raus, Asylantenschwindler raus! Und alle anderen? Auch!!!“ Borna, etwa 30 Kilometer südlich von Leipzig, ein warmer Sonntag im Frühjahr. Nadja, Paul und ich laufen durch die Innenstadt – zusammen mit etwa 130 Demonstranten der Bürgerinitiative „Wir sind Borna“. „Noch sitzt ihr da oben, ihr miesen Gestalten, aber wenn das Volk aufsteht, dann gnade euch Gott!“, geifert ein anonymer Redner durch das Megafon und wünscht der Regierung ein „zweites Nürnberg“.

Tonspur von der Demonstration in Borna

 

Es ist mein erster Einsatz im Leipziger Team von Straßengezwitscher. Wir dokumentieren via Twitter, was auf Demonstrationen von Legida oder fremdenfeindlichen Bürgerinitiativen im Leipziger Umland vor sich geht. Mit unserer Arbeit wollen wir unter anderem dazu beitragen, Öffentlichkeit zu schaffen und das Bewusstsein in der Gesellschaft zu schärfen – das Bewusstsein für den Rechtsruck, der nicht nur durch Sachsen geht, sondern durch ganz Europa.

Straßengezwitscher ist als Projekt von Johannes Filous und Alexej Hock entstanden. Der Twitter-Kanal @streetcoverage der beiden Dresdner erregte mit Livetickern von fremdenfeindlichen Kundgebungen in Freital, Heidenau oder Clausnitz viel Aufsehen. Mittlerweile sind Redaktionen in Leipzig und Chemnitz hinzugekommen; die Twitterkanäle erreichen Millionen Menschen. Das Projekt wurde 2015 mit dem Preis für Zivilcourage und 2016 mit dem Grimme Online Award geehrt.

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Tweet von Straßengezwitscher aus Leipzig

 

Unsere Tweets sind weitgehend wertungsfrei.

Bei unserer Berichterstattung versuchen wir so nah wie möglich an das Geschehen heranzukommen, wenn möglich mittendrin zu sein. Meistens teilen wir uns auf: Mindestens zwei von uns gehen auf die rechte Demonstration und zwei andere auf die Gegendemonstration. Mit unserer Leitlinie „gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ positionieren wir uns eindeutig.

Vor Ort halten wir uns aber an journalistische Standards: Wir twittern nur das, was wir selbst sehen und im Idealfall mit einem Foto oder Video beweisen können. Unsere Tweets sind weitgehend wertungsfrei. Außerdem arbeiten wir mit dem Vier-Augen-Prinzip. Einer verfasst den Tweet, der andere guckt noch einmal, ob alles stimmt. Allgemein sind wir immer mindestens zu zweit unterwegs, das ist einfach sicherer. Bisher berichten wir ausschließlich via Twitter. Demnächst wird aber die Informationsplattform Crowdgezwitscher dazukommen, auf der dann auch längere Texte erscheinen werden.

Die Berichterstattung von den Demonstrationen ist nur ein kleiner Teil unserer Arbeit. Vor und nach den Demonstrationen recherchieren wir viel. Wir fragen bei Landratsämtern nach, welche rechten Veranstaltungen angemeldet sind und durchforsten das Internet nach Aufrufen zu rechten Kundgebungen.

 

Von den Pegida-Demos zum Kongress

Im Frühjahr 2016 kam zu der journalistischen Aufgabe noch eine organisatorische hinzu. Auf Anregung des EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz veranstalten wir einen Kongress – „2gather – gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“. Am Wochende des 8. und 9. Oktober wollen wir uns mit Vertretern aus Politik, Journalismus, Zivilgesellschaft und Kunst in Dresden treffen und vernetzen. Das Ziel: Ein Signal gegen das Erstarken rechter Strömungen senden, Erfahrungen austauschen, zum Beispiel im Umgang mit Anfeindungen. Zusammen darüber sprechen, wie man sich gegen Rechts engagieren kann. Darüber diskutieren, welche Bedeutungen regionale Entwicklungen für Deutschland und Europa haben. Es sind vielfältige Workshops, Vorträge und Diskussionen geplant. Jetzt fehlen nur noch die Teilnehmer. Wer sich informieren oder engagieren möchte, ist herzlich zum Kongress eingeladen.

In Borna ist derweil die Stimmung bis zum Ende der Demonstration aufgeheizt. Vor mir fahren Kinder auf Fahrrädern, neben ihnen läuft eine Frau mit Kinderwagen. „Borna sagt nein, zum Asylantenheim!“, rufen sie. An den Fenstern der Plattenbauten stehen Menschen. Sie nicken und winken den Demonstrationsteilnehmern zu. Am Himmel ziehen tiefgraue Wolken auf. Wir sind froh, als wir in der S-Bahn zurück nach Leipzig sitzen. Es ist gut mit Beweismitteln dahin zurückzukehren.

 

Lisa Kutteruf, 25, studiert Journalistik im Master an der Universität Leipzig. Seit April 2016 unterstützt sie das Leipziger Redaktionsteam von Straßengewzitscher, insbesondere bei der Live-Berichterstattung von Demonstrationen. Parallel dazu hilft sie bei der Organisation des 2gather-Kongresses und fungiert hierbei als Schnittstelle zwischen den Teams in Dresden und Leipzig.

Titelbild: CC Attila Szervac, Bild im Post: CC StraßengezwitscherLE

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