Der englische Rasen

Welche Worte laden mehr zum Verweilen ein, als die einer guten Geschichte? Das Magazin für das Gute Leben präsentiert dir nun einige handverlesene Kurzgeschichten, die zum Nachdenken oder Lachen, im besten Fall jedoch zu beidem gleichzeitig einladen! Nimm dir doch einfach einen kurzen Moment, lass das Tab-Springen sein und genieß diese Kurzgeschichte. Wir sind gespannt was du von ihr hältst!

Nach einem Sturz, der wesentlich schlimmer aussah, als er tatsächlich war, fand sich Bärbel eines Morgens bäuchlings in ihrem Vorgarten wieder. Sie war spät dran und in Gedanken schon bei der Arbeit gewesen, hatte eine weitere Stufe vermutet wo keine war, und war mit einem beherzten Quietschen zu Boden gegangen. Nun lag die Aktentasche etwa zwei Meter vor ihr auf dem englischen Rasen und der Autoschlüssel, den sie bereits zur Hand gehabt hatte, war in der Buchsbaumhecke verschwunden.

Ihr Nachbar Tim ließ unmittelbar seinen Rasenmäher stehen und eilte heran. “Ach herrje,” sagte er und beugte sich mit besorgtem Blick über Bärbel, “Ist alles in Ordnung?”.
“Schon gut, nichts passiert, glaube ich,” murmelte Bärbel “nur mein Autoschlüssel ist im Buchsbaum.”

“Ach du liebes bisschen” sagte Tim, krempelte sich die Hemdsärmel hoch und begann vorsichtig die Zweige der Buchsbaumhecke auseinander zu drücken und hineinzuschauen. “Ich glaub’ ich seh’ ihn” rief er wenig später erfreut und steckte seinen Arm ca. zwei Meter von der tatsächlichen Position des Schlüssels entfernt, tief in die Hecke.

Aus ihrer Bauchlage heraus hatte Bärbel eine hervorragende Sicht auf den Schlüssel, der zusätzlich noch die ersten Morgenstrahlen der Sonne reflektierte und sie fast aufforderungsvoll anblinkte. Sie wollte gerade dazu ansetzen Tim mitzuteilen, dass was auch immer er gerade aus der Hecke zu fischen versuchte nicht ihr Autoschlüssel sein könne, als eine Entscheidung sie vollkommen überrumpelte.

Vielleicht war es der Duft des frisch gemähten Rasens oder die wohlige Wärme der aufgehenden Sonne, oder die Tatsache, dass 921 Euro für eine 40 Stunden Woche zu wenig sind. Vielleicht war es auch wie dumm Tim aussah, der mittlerweile halb mit der Hecke vereint war, angestrengt guckte und dem die Zunge unattraktiv aus dem geöffneten Mund hing, auf jeden Fall entschied sich Bärbel dazu, nicht wieder aufzustehen.

“Lass´ gut sein, Tim,” sagte sie, “ich brauch den Schlüssel nicht mehr.”
“Bitte?” fragte Tim und hielt inne.

“Ich brauch den Schlüssel nicht mehr, du kannst ihn da drin lassen” sagte Bärbel und lächelte. Tim lächelte nicht, hörte aber immerhin auf in der Hecke zu wühlen. “Wie meinst du das?” fragte er.

“Ich stehe nicht mehr auf,” sagte Bärbel, “ich bleibe hier liegen.”
“Musst du nicht zur Arbeit?” Fragte Tim ungläubig, und gab die Schlüsselsuche endgültig auf. “Sicher, dass alles in Ordnung ist? Soll ich einen Arzt rufen?”

“Ach quatsch,” sagte Bärbel “es ist alles gut, ich bleibe einfach hier liegen. Du kannst jetzt weiter Rasenmähen.”

Tim lachte gezwungen “Naja, ein bisschen Erholung kann vermutlich nicht schaden,” sagte Tim. “Ein kleiner Kurzurlaub im Vorgarten, warum eigentlich nicht. Könnte ich auch mal gebrauchen.” Bärbel lächelte und schloss die Augen, legte den Kopf seitlich im weichen Gras ab. Tim setzte nochmal zum Sprechen an, ließ es dann aber bleiben, stand noch ein bisschen herum und verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Sichtlich nervös schaute er sich hilfesuchend um, brachte dann ein “also dann, bis später” über die Lippen und wendete sich wieder dem Rasenmäher zu.

“Entschuldigung.”
Eine tiefe Männerstimme holte Bärbel aus dem Schlaf zurück in den Vorgarten.
“Wohnen Sie in dem Haus hier?”

“Ja”, sagte Bärbel ohne die Augen zu öffnen.
“Ich hab´ hier ein Paket für Herrn Floß, würden Sie das freundlicherweise entgegennehmen?”, sagte die Männerstimme. “Ist gut,” sagte Bärbel “stellen Sie es einfach hier ab.”
“Alles klar,” sagte die Stimme, “dann bräuchte ich bitte hier eine Unterschrift.”
“Nö” sagte Bärbel.
“Sie müssen unterschreiben, sonst kann ich das Paket nicht hierlassen” sagte der Mann.
“Ist mir egal,” sagte Bärbel, “Sie können es gerne hier hinstellen, aber unterschreiben tu ich nichts.”

“Was haben Sie denn für ein Problem?” sagte die Stimme genervt. “So wie ich das sehe, haben wenn überhaupt Sie ein Problem”, sagte Bärbel. “Ich lieg hier nur.”
“Also unterschreiben Sie jetzt oder nicht?” fragte der Postbote. “Nein,” sagte Bärbel, “ich mache gar nichts mehr.”

“Dumme Fotze,” sagte der Postbote.
“Dumme Fotze,” äffte Bärbel ihn nach und lachte.
Der Postbote entfernte sich wütend und als Bärbel wenige Minuten später die Augen öffnete, war ihre Aktentasche verschwunden.

Über den Tag verteilt erkundigten sich insgesamt sieben Rentner und Rentnerinnen, vier Berufstätige und zwei Jugendliche nach ihrem Wohlbefinden. Allen erklärte Bärbel, dass es ihr besser denn je ginge, und das sie vorhabe liegen zu bleiben.

Als sich gegen Nachmittag eine verständnisvolle Katze aus der Nachbarschaft für einige Stunden zu Bärbel legte, löste sich eine Monate alte Verspannung in ihrer linken Schulter.
Herr Floß, der wie immer gegen 18 Uhr nach Hause kam, erzählte Bärbel, dass der Postbote nach einmaligem Klingeln sofort gegangen sei, selbst nachdem sie angeboten hätte das Paket anzunehmen. “Diese Arschlöcher von der Post,” wetterte Herr Floß.

Bärbel schlief hervorragend.

Gegen Mittag des zweiten Vorgartentages wurde sie dann doch nachdenklich und begann ihre Entscheidung zu hinterfragen. Auch nach zwei Stunden intensiven Nachdenkens hatte sie jedoch weder Gründe fürs Aufstehen, noch Gründe fürs Liegenbleiben zusammengetragen, und blieb daraufhin weiter liegen. Währenddessen häuften sich an ihrem Arbeitsplatz, von Bärbel unbemerkt, die Probleme, die durch ihren plötzlichen Ausstieg aus dem Alltag entstanden waren. Als Bärbels Handy, welches sich in ihrer Handtasche auf dem Beifahrersitz eines schlecht gelaunten Postangestellten befand, zum zweiunddreißigsten Mal unbeantwortet blieb, sprang ihr Chef ins Auto und fuhr zu Bärbels Wohnung.

Ungefähr eine viertel Stunde bevor er mit quietschenden Reifen und hochrotem Kopf vor ihrem Haus hielt, war Bärbel bereits verdurstet. Noch heute lässt Tim beim Rasenmähen einen menschlichen Umriss im englischen Rasen stehen.


Der Autor Lukas Diestel hat in Freiburg Englisch und Kognitionswissenschaft stufiert, ist Schriftsteller und eine Hälfte von dem Blog “Worst of Chefkoch.” Schreibt unter anderem für das Intro Magazin und piqd.de (Autorenbild: Marius Green). Twitter: @eckdoktor

 

 

Nienke Ka-Boom studierte nach ihrer Ausbildung zur Grafikdesignerin erst Visuelle Kommunikation in Pforzheim und dann Comic Kunst an der renommierten Sint-Lukas Kunstschule in Brüssel. Seit ihrem Abschluss lebt sie als freie Illustratorin, Comiczeichnerin und Zinemacherin in ihrer Wahlheimat Berlin. Interessenten ihrer Arbeit empfehlen wir ihre beiden Instagram-Projekte Dynamite.Berlin und Grenade.flavoured.

Foto: Sujan Sundareswaran, via Unsplash

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