Die Unmöglichkeit einer Insel

Am Ende des viel zu kurzen Lebens von Christopher McCandless steht eine Erkenntnis: “Happiness is only real when shared”. Der Weg dorthin ist steinig: Abgestoßen von der Verlogenheit der Gesellschaft und der Scheinheiligkeit seiner Eltern zieht es ihn in die Wildnis Alaskas. Hier möchte McCandless Souveränität gewinnen und den ewigen Kompromissen und Widersprüchen entkommen. Er sucht die Freiheit und findet den Tod. “Happiness is only real when shared” steht schließlich in seinem Notizbuch neben dem verhungerten Leichnam.

Endlich der „Souverän“ sein.

Die Sehnsucht nach absoluter Souveränität und das Ringen mit ihr ist ein Phänomen unserer Zeit, die im Spannungsfeld zwischen immer feinerer Ausdifferenzierung und gleichzeitiger immer weitreichenderer Vernetzung steht. Kurz: Niemand gleicht den Anderen, aber alle hängen irgendwie zusammen. So individuell man sich fühlt, so statistisch ist man doch. Der Film “Into the Wild” über McCandless Reise in die vermeintliche Unabhängigkeit ist nicht zufällig ein großer Erfolg gewesen. Und genauso wenig ist es ein Zufall, dass politische Bewegungen – wenn auch aus der entgegengesetzten Richtung von McCandless – diese Sehnsucht nach Souveränität aufnehmen und diese mit Begriffen wie „Abendland“ aufbrezeln wollen.

Hätte der vereinsamte McCandless am Ende seiner Tage den Brexiteers um Nigel Farage und Boris Johnson etwas zu erzählen gehabt? Beiden Seiten ist ja gemein, dass sie dem komplizierten Drahtverhau von Interessen und Konflikten entkommen möchten. Sie wollen endlich der „Souverän“ sein. Für den einen sind es die Widersprüche innerhalb der Familie und für die anderen innerhalb der Staatenfamilie: “We want our country back”, “Take Control” und “Vote for Sovereigntiy” stand auf den Plakaten der Leave-Voter.

Leider ist diese Souveränität ein Trugschluss: auf der persönlichen Ebene, wie McCandless erfahren hat, und genauso auf der politischen Ebene. Auf beiden handelt es sich um unzulängliche Reaktionen auf die Anforderungen oder auch Zumutungen der Moderne.

Das Souveränitäts-Paradox

Souveränität als Handlungslogik für Staaten kam erstmalig in den Westphälischen Friedensverträgen auf, die den Dreißigjährigen Krieg 1648 beendeten. Dort wurde beschlossen, die Souveränität der Vertragspartner zu achten, was bedeutete, dass ein Herrscher im eigenen Machtbereich niemanden auf der Höhe seiner Macht zu dulden und von außen keinen überlegenden Einfluss zu fürchten hat. Ein halbwegs realisierbarer Ansatz für die zentraleuropäischen Staaten im 17. Jahrhundert, deren hauptsächliche Beschäftigung Steuereintreibung und Befriedung der Länder war.

Wenn aber heute zu den wichtigsten Aufgaben, die ein “souveräner” Staat bewältigen muss, das Erreichen sozialer Ziele und damit etwa die erfolgreiche Regulierung, wenn nicht sogar das Managen der Volkswirtschaft gehört, dann ändert sich das Bild der Souveränität dramatisch. Diese Ziele zu erreichen, ist unter den meisten Konstellationen ohne externe Kooperation unmöglich. Die Lösung: geteilte Souveränität. Aber geteilte Souveränität ist ein in sich widersprüchlicher Begriff.

Ein gutes Beispiel zur Veranschaulichung wäre das Postsystem. Sicher sollte ein funktionierender “souveräner” Staat in der Lage sein ein Postsystem bereitzustellen. Es besitzt aber nur minimalen Wert, wenn es nicht möglich ist, Briefe über Staatsgrenzen zu senden und zu empfangen. Wenn also nur Binnenkommunikation zugelassen wird. Um Außen- und Binnenkommunikation miteinander zu kombinieren, muss die Souveränität des Postsystems schon wieder abgegeben werden. So geschehen in der Universal Postal Union von 1874.

Souveränität muss beschränkt werden.

Paradoxerweise wird dadurch die Macht eines souveränen Staates zugleich verringert und erweitert. Der Staat hat nun die Möglichkeit ein effektives Postsystem aufzubauen (essentiell für eine funktionierende Wirtschaft!), zahlt aber mit der partiellen Abgabe seiner Macht. So entstanden Netzwerke, ohne die Staaten ihre Aufgaben heute nicht mehr wahrnehmen könnten: IMF, Weltbank, WTO, UN, aber auch die Europäische Union. Klimawandel, Migration, Epidemien und Globalisierung von Kriminalität   – all diesen Anforderungen ist das Konzept von Souveränität im Horizont des 17. Jahrhunderts nicht gewachsen.

Die Gegenwart muss daher den einseitigen Begriff der Souveränität überwinden: Souveränität muss beschränkt werden, um wirklich souverän zu sein.

Dies bedeutet, Kompromisse einzugehen. Und in nicht allzu eleganten Institutionen wie der Europäischen Union aus geteilter Souveränität mehr als die Summe ihrer Teile zu machen. Wer Souveränität in der Abschottung sieht, wird zum machtlosen Außenseiter. Oder wie der ehemalige britische Justizminister Clarke trefflich schreibt: Wenn man dem Souveränitäts-Argument der Brexiteers folgt, wäre Nordkorea der souveränste Staat der Welt.

Das große Wir und das kleine Ich

Auch auf der politischen Mikro-Ebene, dem Zwischenmenschlichen, reiben und zerreiben wir uns an dem Thema Souveränität. Auch hier die Sehnsucht nach Selbstvergewisserung als Selbst-Souveränität: Wir haben Identitätsbedürfnisse, an denen wir uns in unsteten Zeiten festhalten möchten.

Denn was ist “Ich” ohne die anderen?

In den Sozialen Medien, gewissermaßen der industrialisierten sozialen Interaktion, ist es anstrengend bis unmöglich, Identität zu bewahren Das “Ich” so auszustaffieren, dass es erkennbar ist und nicht im Rauschen untergeht. Chris McCandless reagiert mit dem Ausbruch aus dieser “Ich”-Welt, einem Ausbruch, mit dem er Souveränität wiederherstellen und so das Ich gegen den Rest absichern möchte. Ein Versuch, der ins Leere zielt.

Denn was ist “Ich” ohne die anderen? Gebunden bin ich durch Orte, Ereignisse, Sprache, Freuden, Leiden, Vorfahren, Freunde und Erinnerungen, analysieren die französischen Philosophen des Comité Invisible. Alles Dinge, die ich nicht “ich” nennen kann, die mich unsouverän werden lassen. Eigentlich ist alles, was mich an diese Welt bindet, sind alle Kräfte in mir nicht unter den einen Hut der „Ich“-Souveränität zu bringen.

„Ich“ bedeutet vielmehr gemeinsame Existenz, ein Teilsystem, das sich auf Kommunikation mit anderen Teilsystemen einlassen muss und sich dabei ständig verändert. Nur manchmal, „probweis, delikat und kühn“ (Brecht), tritt ein Wesen hervor, dass im Sinne des Wortes“Ich” sagen kann. Ein Wesen, zu zart, um es „souverän“ zu nennen. Was träte zum Vorschein, wenn die Wolke aus Einflüssen gewaltsam vertrieben würde? Christoph McCandless probierte es und stellte fest: Es ist nicht das wahre Glück. Je mehr Konzentration auf Innen, desto mehr das Nichts.

Das „Ich“ ist gezwungen, in einer Welt zu leben, worin der Glaube an die Dauerhaftigkeit des „Ich“ so groß ist und das “Wir” so wenig Pflege erhält. Aber „Ich“ ist „Wir“.

Am Ende rennen wir, als Individuen oder als Staaten, immer nur einem Trugbild der Souveränität hinterher. Je mehr ich „Ich“ sein will, desto mehr habe ich das Gefühl von Leere. Je mehr ich mich souverän inszeniere, desto mehr vertrockne ich. Je mehr ich hinter mir herlaufe, desto entferner ist das vermeintliche Ziel. Das “Ich” hinter dem “Wir” ist nicht, was es zu versprechen scheint. Es gibt keinen “Exit”. Weder in Alaska noch in Großbritannien.


Titelbild: CC Daan Huttinga (unsplash.com)

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