Jeder Mensch kann empathisch sein. Viele empfinden aber immer weniger Empathie für Wildfremde – mit fatalen Folgen für das gesellschaftliche Gefüge, das vielerorts längst kein Miteinander mehr ist. Dabei zeigt die Forschung: Empathie lässt sich trainieren wie ein Muskel. Achtsamkeits- und Mitgefühlstrainings machen die Teilnehmenden zufriedener und sozialer. Wäre also ein emotionales Fitnessprogramm der Schlüssel zur friedlichen Gesellschaft?
Heute schon über den herzlosen Fahrkartenkontrolleur aufgeregt? Schon der Empörung über die Bereitschaftspolizei Luft gemacht? Könnte man diesen Leuten doch bloß ein wenig Empathie eintrichtern! Ein Kurs in Menschlichkeit, ein Workshop in Achtsamkeit und schwups: bessere Menschen, bessere Gesellschaft! Wäre es am Ende sogar denkbar, dass wir uns selbst mehr Verständnis und Mitgefühl antrainieren können – mit diesen armen Leuten, die schließlich nur ihren Job machen?
Grundsätzlich sind alle gesunden Menschen zur Empathie veranlagt: Stößt eineR sich den Kopf, dann verziehen auch die Umstehenden das Gesicht, fühlen den Schmerz andeutungsweise mit. Kaum jemanden lässt es kalt, von einem schmerzhaften Verlust erzählt zu bekommen – ein Schatten der Verzweiflung macht sich dann auch in der ZuhörerIn breit. Zwar sind die neuronalen Automatismen, die dieser emotionalen Empathie, also dem Mitfühlen fremder Empfindungen, zugrunde liegen, bis heute nicht völlig aufgeklärt.
Zwingende Voraussetzung ist jedenfalls die Fähigkeit zur Perspektivübernahme: Das korrekte Erkennen, Einordnen und Nachvollziehen von Gefühlsausdrücken wird als kognitive Empathie bezeichnet. Erst wenn ein verkniffenes Gesicht als vom Schmerz verzerrt erkannt wird, das Jubeln der Hochzeitsgesellschaft als Freude und die Abschiedstränen einer fremden Person am Bahnsteig als Trauer, können die entsprechenden Gefühle auch in den Beobachtenden ausgelöst werden.
Nicht wenige stoßen an Grenzen: Mitgefühl bis hier hin und nicht weiter
Ohne emotionale und kognitive Empathie ist ein Zusammenleben in Gesellschaft kaum denkbar. Dank Mitgefühl ist nicht jeder Mensch dem Menschen ein Wolf. Trotzdem ist die Empathiefähigkeit zunächst nicht bei allen gleich ausgeprägt: Fast jedeR reagiert stark empathisch auf Emotionen naher FreundInnen, nur wenige weinen aber bei der Tagesschau. Hier sind wertvolle psychische Schutzmechanismen am Werk.
Tatsächlich ebbt die Empathie allerdings nicht selten an den Randbereichen der eigenen Bezugsgruppe weitgehend ab. Was diese Gruppe auszeichnet, kann ganz unterschiedlich sein: sei es die Nationalität, Einkommensschicht, politische Gruppierung. Oder auch bloß der Bekanntenkreis in Abgrenzung zu allen anderen, den Fremden. Wie gefangen in einer Blase, oft ohne böse Absicht, gibt es Empathie dann nur für die Personen innerhalb des Zirkels.
Probleme entstehen, wenn dann Menschen, die unmittelbar miteinander zu tun haben – KollegInnen, VerkehrsteilnehmerInnen, politische GegnerInnen – keine Perspektivübernahme und kein gegenseitiges Mitgefühl mehr erwarten können.
Für eine Gesellschaft, deren Mitglieder sich die Hand reichen, anstatt die Ellbogen auszufahren, muss die oder der Einzelne vor allem aus der eigenen Blase ausbrechen können. „Der Mangel an Mitgefühl ist zweifellos“, wie die Leipziger Empathieforscherin Tania Singer schreibt, „ein Grund für so viele der größten Versagen der Menschheit.“
Die Schranken zwischen dem Innen und Außen der Blase aufzulösen, zwischen „meine Leute“ und „die Anderen“, ist aber alles andere als einfach. Das mag auch Unterstützung brauchen. Doch bei den meisten Menschen ist die begrenzte Empathiefähigkeit ja keine Krankheit, die es zu therapieren gilt. Ließe sich Empathie also immerhin – weniger klinisch gesprochen – schulen, trainieren, stärken?
Gefühle erkennen – bei sich selbst und anderen, ist zunächst ein bisschen wie Vokabeln lernen.
Wege aus der eigenen Blase werden genau genommen seit Jahrzehnten erprobt: Geschätzte 0,6 % aller Menschen leben mit einer autistischen Störung, dem teilweise oder völlig eingeschränkten Vermögen zur kognitiven und emotionalen Empathie. Die Betroffenen sind in der Regel nicht in der Lage, den Gefühlszustand ihres Gegenübers korrekt zu lesen und angemessen darauf zu reagieren. Ihre eigenen empathischen Empfindungen sind ihnen häufig ein Rätsel. Was für die meisten Menschen ganz intuitiv ist, ist für AutistInnen schwierig, aber erlernbar. Empathietrainings sind daher verbreitete Praxis. Häufig ermöglichen erst die Erfolge dieser Programme den Teilnehmenden, ihren Alltag zu bestreiten.
Lutz, ein elfjähriger Junge mit Asperger-Syndrom, erprobt zum Beispiel „Zirkus-Empathico“, ein App-basiertes Trainingsprogramm der Berliner School of Mind and Brain an der Humboldt-Universität. Auf dem Bildschirm reißt eine Frau den Mund auf, ihre Augen weiten sich, ihr Blick wird starr. Im Hintergrund ist eine dunkle Straße zu sehen, ein Wirbelsturm rast aus dem Hintergrund heran. „Was für Gefühle hat diese Frau?“, fragt ihn Isabel Dziobek, Professorin für Soziale Kognition.
„Ich glaube, sie hat Angst. Angst vor dem Wirbelsturm!“ Lutz erkennt das am offenen Mund – die Stellung der hochgezogenen Augenbrauen unterscheidet sich aber von „Überraschung“. Monatelang trainiert er mit der spielerischen Trainings-App seine sozio-emotionalen Kompetenzen. Mithilfe von 60 verschiedenen Videoaufnahmen sozialer und emotionaler Situationen lernt er dabei, auch seine eigenen Gefühle zu erkennen und zu benennen. Das gibt ihm die Möglichkeit, anhand erlernter Handlungsoptionen im Alltag auch angemessen zu reagieren und seinen empathischen Emotionen Ausdruck zu verleihen – also die Blase zu verlassen, die ihn von seiner Umwelt trennt.
Was der Konkurrenzgesellschaft fehlt, ist wohl dennoch weniger die grundsätzliche Fähigkeit zur Empathie, als vielmehr die tagtägliche Ableitung mitfühlenden, prosozialen Handelns. Tania Singer, Professorin für soziale Neurowissenschaften in Leipzig und Berlin, ist überzeugt: Mitgefühl, Altruismus, solidarisches Denken und Handeln lassen sich mit geeignetem Training bei praktisch jeder und jedem „kultivieren“, mithin dauerhaft und messbar im Gehirn verankern.
Dass mentales Training, ganz ähnlich wie beim Trainieren der Muskeln, den Aufbau des Gehirns verändern kann, gilt als gesichert: Wer regelmäßig meditiert, bei dem schrumpfen Areale, die mit Angst assoziiert sind, während Bereiche wachsen, die für Aufmerksamkeit und Mitgefühl bedeutend sind. Die Ausschüttung von Glückshormonen wird gesteigert, das Stresshormon Cortisol gehemmt. Meditierende sind gelassener.
https://vimeo.com/178445463
ForscherInnen suchen die mentalen Übungen, die Menschen langfristig empathischer machen
Während die Mehrheit beim Stichwort Meditation an orange gewandete Mönche, zartrosa Lotusblüten und Prenzlauer Berg denkt, gehen achtbare NeurowissenschaftlerInnen visionärere Wege: Unter Leitung von Singer durchlaufen Freiwillige seit 2013 im „ReSource Projekt“ ein intensives elfmonatiges Trainingsprogramm, in dem über eine säkulare Anwendung buddhistischer Meditationstechniken beinahe täglich Achtsamkeit und Mitgefühl trainiert werden. DoktorandInnen und ForscherInnen prüfen dann: Verändert sich die Reaktion der Teilnehmenden auf Stresssituationen? Verhalten sie sich in Experimenten sozialer, altruistischer, empathischer?
Danach sieht es tatsächlich aus, wie die Studienleiterin im Januar 2015 in einem Beitrag zum World Economic Forum in Davos darstellt. Das von Singer mitkonzipierte Mitgefühlstraining verändere die ProbandInnen nämlich. Ihre Hilfs- und Kooperationsbereitschaft nahm ebenso zu wie ihr persönliches Wohlbefinden und ihre Gelassenheit bei Stresssituationen. Mit diesen Erkenntnissen machen die Max-Planck-ForscherInnen seither Werbung – für Mitgefühlstrainings in Schulen, Betrieben, politischen Einrichtungen. Ein ReSource Institut soll zukünftig Schulungen anbieten und so zum gesellschaftlichen Wandel beitragen. Mentales Training, so Singer, könne „Gesellschaften ermöglichen, ihr Mitgefühl zu kultivieren und eine neue Art solidarischer Volkswirtschaften aufzubauen.“
Kompliziert scheint jedoch der Zeitaufwand. 20 bis 30 Minuten täglich seien bei Erwachsenen nötig, um messbare Effekte nachzuweisen, bei Kindern höchstwahrscheinlich weniger. Das ReSource-Team möchte mentales Training daher vor allem in Schulen einbringen. Mehr als Faktenwissen werden schließlich sozial-kognitive und emotionale Fähigkeiten, wie Einfühlungsvermögen und Stressresistenz, unsere Gesellschaft sowie den Erfolg der oder des Einzelnen prägen. „Achtsamkeitstrainings“ werden heute zwar an einigen deutschen Schulen bereits angeboten, sind den Beweis ihrer Wirksamkeit allerdings weitgehend schuldig geblieben. Das könnte sich durch das ReSource-Programm bald ändern.
Langsam beginnen Schulen, sich der Empathie gezielter anzunehmen
Zugegeben, die Vorstellung einer Morgen-Meditation in jeder öffentlichen Schule ist befremdlich. Dabei dürfte die Erkenntnis, dass auch soziale und emotionale Kompetenzen von der öffentlichen Hand geschult werden müssen, kein Dammbruch sein. Wenn es also erfolgversprechende Wege gibt, Anreizsysteme für prosoziales Verhalten sowie allgemeines Wohlbefinden im Gehirn zu stärken, dann wird das dem Bildungsauftrag der Schulen ebenso gerecht wie der Vision der meisten Menschen für die Gesellschaft von morgen. In der schulischen Praxis ist die explizite Förderung von Empathie und sozialen Kompetenzen aber bislang eine Ausnahme.
Methoden, die BildungspolitikerInnen und SchulleiterInnen leichter verdaulich sein dürften als mentales Training, gibt es derweil bereits länger. Glücksunterricht wäre eine. An über 100 Schulen im ganzen Bundesgebiet wird außerdem durch Service-Learning, also Lernen durch Engagement, die Vermittlung von Unterrichtsstoff mit sozialem Engagement seitens der Jugendlichen verbunden. Das heißt, die Mitglieder des Erdkundekurses engagieren sich als LernmentorInnen für die Willkommensklasse, der Musikunterricht findet regelmäßig als gemeinsames Musizieren mit geistig Behinderten statt. Auch durch Service-Learning, Glücksunterricht und ähnliche Konzepte wird das Verlassen der „Blase“ forciert. Langfristig kann so die Fähigkeit zur Perspektivübernahme trainiert und ein empathisches, solidarisches Miteinander gestärkt werden.
Verschiedene Wege führen in dieselbe Richtung. Doch entscheidend ist: Empathie lässt sich durchaus schulen, trainieren, stärken – und zwar bei praktisch allen. Wir dürfen also hoffen. Im erwachsenen Gehirn wirklich nachhaltige Veränderungen hervorzurufen, kostet Zeit und daher auch Geld. So wird die Transformation zu einer mitfühlenden Gesellschaft wohl an unseren Kindern hängen bleiben. Sei’s drum: Mögen das „Kultivieren von Mitgefühl“ und das von Singer eingeforderte „Mitgefühl in der Wirtschaft“ erst einmal irre klingen, verrückt ist vor allem die allgemeine Selbstverständlichkeit von sozialer Kälte, Burnouts, Depressionen. Also: Raus aus der Blase, bevor wir darin ersticken!
Die Autoren: Jonathan Steinke & Maren Kammhoff
Illustriert von: Anna Marin
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