Muslimische Feministinnen finden nicht genug Gehör

Bevor Marlene Löhr Pressesprecherin der liberal-islamischen Ibn Rushd-Goethe Moschee wurde, war sie christliche Grünen-Politikerin. Der Koran machte sie zu dem, was sie heute ist. Was das mit Feminismus zu tun hat, sagt sie transform.

transform: Marlene, 2017 eröffnete mit der Ibn Rushd-Goethe Moschee in Berlin-Moabit das erste muslimische Gebetshaus in Deutschland, in dem Frauen vorbeten dürfen und Geschlechter nicht getrennt sind. Du warst seit Anfang Pressesprecherin der liberal-muslimischen Gemeinde. Wie bist du dazu gekommen?

Marlene Löhr: Anfang 2017 las ich einen Artikel zu Seyran Ateş’ Plänen, eine liberale Moschee zu gründen. Ich fühlte mich davon angesprochen, stieß zu der Gründungsgruppe und übernahm die Pressearbeit. Damit bürdete ich mir ein krasses Arbeitspensum auf: Die Medien-Resonanz überrollte uns. Drei Monate machte ich das neben einem Fulltime-Job. Ich arbeitete tagsüber bei der Organisation »We Move Europe« und nachts für die Ibn Rushd-Goethe Gemeinde.

Und zuvor bist du zum Islam konvertiert?

Damals arbeitete ich als Grünen-Politikerin in Schleswig-Holstein. Als die Debatte um den Islamismus erstarkte, hatte ich das Bedürfnis, mich mit dem Koran zu beschäftigen, um das Gespräch nachvollziehen und mitreden zu können. Der Koran berührte mich. Ich las weiter über den liberalen Islam. Dann bin ich konvertiert. Dafür muss man – anders als zum Beispiel im Judentum oder Christentum – nur das Glaubensbekenntnis aussprechen.

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Dieser Text stammt aus transform Ausgabe 6 zum Thema Religion. Unterstütze unsere Arbeit, genieße das liebevoll illustrierte Magazin und bestelle das Heft!

Was bedeutet der Islam heute für dich?

Mein Glaube gibt mir Halt und Sinn. Ich habe eine innere Ruhe entwickelt: Er schenkt mir etwas Beschützendes. Es sind in meinem Leben Dinge passiert, die sich einfach fügten. In meinem festen Glauben bin ich mir immer sicher, dass sich neue, richtige Wege ergeben.

Hast du ein Beispiel?

Nichts Konkretes. Aber immer, wenn ich gemerkt habe, dass ich beruflich
nicht weitergekommen bin, fügte sich etwas Neues, was mich letztendlich
weiter brachte. Klar kann das Zufall sein – Glauben hat aber auch sehr viel
Naturverbundenes. Die Schöpfung ist kein Zufall, die Natur ist ein Wunder.
Wenn ich mich in dieser Welt umschaue, kann ich nicht an den Zufall glauben.

Du identifizierst dich mit dem Feminismus. Dem Islam wird häufig pauschal vorgeworfen, Frauen zu unterdrücken. Wie kommen Islam und Feminismus für dich zusammen?

Feminismus bedeutet für mich, dass Männer und Frauen gleichwertig sind. Ich habe den Koran immer sehr feministisch gelesen. Man kann aus dem Koran bestimmte Ethiken und Werte betreffend der Gleichwertigkeit herauslesen. Das ist natürlich eine Frage der Interpretation. Ich lese im Koran, dass Mohammed ein Feminist war. Er hat aus verdinglichten, weiblichen Wesen wieder Frauen, aus Objekten wieder Subjekte gemacht. Und zwar gegen einen großen Widerstand: Gegen eine patriarchale Gesellschaft, die ihre Privilegien für die Gleichberechtigung aufgeben muss. Er hat den Prozess nicht abgeschlossen, aber Wichtiges angestoßen.

Heute dominieren weltweit allerdings weniger feministische Interpretationen des Korans.

Das stimmt. Die Ibn Rushd-Goethe Moschee geht ein paar Schritte weiter: Die Gemeinde lebt einen zeitgemäßen Islam, bricht mit vielen alten traditionellen Regeln und stellt patriarchale Riten im Islam in Frage. Es ist wichtig, dass wir Tradition und Religion nicht verwechseln. Die Kopftuchpflicht und das getrennte Beten sind zum Beispiel Tradition. Das krampfhafte Festhalten an diesen Traditionen, unter anderem im Wahhabismus zu finden, wird aus den Golfstaaten finanziert, um das patriarchale System am Leben zu erhalten. Ich sehe uns als Gemeinde als Teil einer Gegenbewegung. Zusammenschlüsse wie uns gibt es auf der ganzen Welt, etwa in den USA, im Irak oder in Frankreich.

Wurdest du irgendwann mal aufgrund deiner Religion diskriminiert?

Ich trage selbst kein Kopftuch, deshalb bin ich als Muslimin nicht erkennbar. Generell erzähle ich auch nicht oft, dass ich muslimisch bin. Glauben ist für mich etwas sehr Privates, etwas Innerliches, was mir Halt gibt. Also nein: Keine großen Diskriminierungserfahrungen.

Islamische Reformbewegung — Für eine liberalere Auslegung des Korans sprechen sich progressive Islamgelehrte und Imame bereits seit dem 19. Jahrhundert aus. Reformvorschläge betreffen zum Beispiel eine säkulare Gesetzgebung, die Stellung der Frau oder die Sexualmoral. In Deutschland gründete sich als Gegenpol zu den dominierenden konservativen Islamverbänden 2010 der Liberal-Islamische Bund (LIB) unter Vorsitz der Duisburger Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor. Die Organisation betreibt bundesweit eine Handvoll kleiner Gemeinden und positioniert sich als muslimische Stimme öffentlich etwa für die Ehe für alle und gegen Antisemitismus. Die Konrad-Adenauer-Stiftung beförderte 2015 die Gründung des Muslimische Forum Deutschland (MFD), dessen 17 »Berliner Thesen« ein humanistisches Leitbild für den Islam in Deutschland aufzeichnen. Dazu gehört etwa eine historisch informierte und kritische Lektüre des Korans sowie die Wahlfreiheit beim Kopftuch. Ähnlich reformorientierte Forderungen finden sich auch in der »Freiburger Deklaration« von prominenten deutschsprachigen Muslimen aus dem Jahr 2016. Von den muslimischen Massenverbänden werden die Reformprogramme teils als lebensferne, rein akademische Minderheitenpositionen abgelehnt. Die MFD dagegen behauptet, das Islamverständnis der Mehrheit der hiesigen Muslime zu repräsentieren. Lockerer nehmen es die »Datteltäter«: Die muslimischen Youtuber arbeiten seit 2015 am selbsternannten »Satire-Kalifat«.

Alice Schwarzer propagiert seit geraumer Zeit ein Anti-Kopftuch-Kampagne. Die queer-feministische Bewegung macht sich für eine Liberalisierung des Kopftuches stark. Wo positionierst du dich?

Ich bin schon immer feministisch aktiv gewesen, schon lange bevor ich konvertiert bin. Die feministischen Ansätze im Koran waren mein Zugang zum Islam. Dennoch war ich direkt sicher, dass ich kein Kopftuch trage. Wenn andere aus dem Koran lesen, dass sie es tragen, finde ich das okay. Es ist ihre Art, den Glauben zu leben. Ich bin jedoch kritisch den Frauen gegenüber, die behaupten: Es ist Feminismus, Kopftuch zu tragen. Ich denke: Es ist Selbstbestimmung, aber kein Feminismus. Die Tradition, die dahinter steht, ist alles andere als feministisch. Das Kopftuch steht für Rollenbilder, in denen die Frau ihre sexuellen Reize verstecken muss, damit der Mann nicht den Verstand verliert. Deshalb stehe ich persönlich auch dafür ein, das Kopftuch aus dem öffentlichen Dienst zu verbannen. Der Staat hat die Aufgabe der Gleichberechtigung.

Ausgewogene Kritik hört man in Deutschland selten. Es dominieren die absoluten Kopftuch-Verfechter*innen oder eben die anti-muslimische Haltung.

Das Problem ist, dass die Debatte vorwiegend übereinander, aber nicht miteinander geführt wird. Wir sollten einander mehr zuhören, anstatt uns Parolen an den Kopf zu werfen. Schade finde ich, dass muslimische Feministinnen in der Politik oft nicht gehört werden, sondern als Islamkritikerinnen dargestellt werden. Ich wurde selbst von einem Grünen-Politiker als islamophob bezeichnet. Das ist absurd. Besonders aus dem linken Spektrum wünsche ich mir da mehr kritisches Bewusstsein. Wie gesagt, nur weil etwas selbstbestimmt ist, ist es noch lange nicht feministisch. Die Kopftuch-Debatte darf nicht mit Feminismus verwechselt werden.

PS: Marlene Löhr arbeitet heute nicht mehr als Pressesprecherin der Ibn Rushd-Goethe Moschee. Seyran Ates nahm von einem Bordellbetreiber einen Kredit an.

Weiterlesen

Liberal-islamische Organisationen
Ibn-Rusche Goethe-Moschee
Liberal-Islamischer Bund e.V.
Muslimisches Forum Deutschland e.V.
Säkulare Muslime
Islamischer Feminismus [Leitbilder, Selbstverständnis und Akteure, Indre Andrea Monjezi-Brown, Heinrich-Böll-Stiftung]

Illustration: Julia Freisleben für transform Magazin

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