Sunny Graff ist Juristin, Taekwondo-Großmeisterin und Frauenrechtsaktivistin. In den 1970ern begann sie in Ohio ihre Arbeit gegen Gewalt an Frauen, gründete Gesprächsgruppen, richtete Notfalltelefone für vergewaltigte Frauen ein und erarbeitete eines der ersten feministischen Programme zur Prävention von Vergewaltigung in den USA. Wir sprechen über die Systematik und die verdrängende Funktion von Gewalt an Frauen – und was Empowerment dem entgegenzusetzen hat.
Wo ist das Problem?
Welche Ideen und Bilder des ‘Weiblichen’ hindern Frauen daran, Raum einzunehmen?
Alle, wirklich. Wir bekommen von klein auf eine Gehirnwäsche, dass wir nicht mehr wissen wer wir wären ohne unsere Sozialisation. Wer wir sein könnten. Nur eine kluge Fisch weiss, dass sie im Wasser schwimmt. (Anmerkung: Sunny achtet darauf, dass ihre Sprache nicht das Männliche als Standard widerspiegelt.) Wir hinterfragen die Nachrichten und Botschaften über die Qualitäten guter Mädchen oder Frauen nicht. Weil sie ein inhärenter Teil unserer Gesellschaft sind. Dieses Rollentraining ist unglaublich umfassend: Männer sind stark, mutig, Anführer, Frauen haben zu dienen, zu lächeln, gut auszusehen. Wir überlassen wichtige Entscheidungen Männern und verzichten auf den Platz, der uns zusteht.
Wann hast du angefangen, dich gegen diese Norm zu stellen?
Es war in der Frauenbewegung der 60er und 70er Jahre, dass Frauen gesagt haben: Moment mal, geht das auch anders?
Mit Blick auf das Thema Gewalt herrschte damals der Spruch „Lieber vergewaltigt als tot“. Das wurde uns von allen Seiten her eingeredet. Und natürlich würde frau sich bei den Wahlmöglichkeiten für das Leben entscheiden. Damals war es radikal und revolutionär, dass wir gefragt haben „Könnte es auch eine dritte Möglichkeit geben? Könnte eine Frau sich wehren und entkommen?“ Wir haben diese Möglichkeit quasi erst eingeführt. Es braucht Fantasie um sich Handlungsmöglichkeiten außerhalb des gesellschaftlichen Schemas, außerhalb der weiblichen Passivität und Opferrolle vorstellen zu können.
Wie lief dieser Prozess des Hinterfragens ab und was hat er für dich verändert?
Wir haben uns Gruppen organisiert und versucht, Bewusstsein für die Misstände zu schaffen. Kleine Gruppen von Frauen die über sehr persönliche Dinge gesprochen haben. Unser Spruch damals war: „Das private ist politisch!“
Hast du ein Beispiel dafür?
Zum Beispiel, dass wir nicht die volle Kontrolle über unseren Körper hatten. Das war noch vor der Pille, ohne legale Formen der Abtreibung. Durften, konnten und wollten wir als Frauen überhaupt Sex haben? Noch dazu mit der sozialen Ächtung außerehelicher Schwangerschaften? Die Erfahrung, keine Kontrolle über den eigenen Körper zu haben, kannten alle von uns. Das festzustellen war wichtig, um sich zu fragen: Warum ist das so? Und warum gibt es keine Regel, kein einziges Gesetz, das männliche Körper betrifft?
Viele Frauen haben nie mit anderen Frauen über diese Erfahrungen gesprochen, die doch so verdammt wichtig für ihre Leben sind. Sexualisierte Gewalt ist ein riesen Thema. Rassistische Gewalt ist ein Riesenthema.
Dennoch wird es in unserer Gesellschaft kaum thematisiert. Eine Frau die Gewalt erfahren hat, macht das mit sich aus. Gibt es nicht preis – aus Angst vor dem gesellschaftlichen Urteil, da die öffentliche Meinung immer noch nach der Schuld und Verantwortung der Frau fragt. Jede vierte Frau in Deutschland ist mindestens einmal in ihrem Leben von Gewalt durch ihren Partner betroffen . Das sind extrem viele Frauen, die furchtbare Erlebnisse nicht besprechen und nicht aufarbeiten können.
In meinen Kursen für Empowerment und Selbstverteidigung erlebe ich immer wieder, wie eine Woche der gemeinsamen Reflektion die Leben und Sichtweisen vieler Frauen komplett verändern können.
Was bedeutet Empowerment?
Was genau macht ihr in dieser Woche und zu welchen Veränderungen führt das?
Nun, in den Vorstellungsrunden sagen immer alle sie seien aus Neugierde da und hätten nie Gewalt erlebt. Erst wenn Frauen sich darüber bewusst werden, was eigentlich alles nicht okay, nicht normal und schlicht Gewalt ist, fallen einem Erfahrungen dazu ein. Dann kommen von überall ein „Als ich ein Kind war …“, ein „Damals als Jugendliche …“ oder „Mein Chef ….“ Sexuelle Gewalt wird oft dargestellt als der Fremde der aus dem Gebüsch springt und dich vergewaltigt. Dadurch erkennen wir den überwiegenden Teil von Gewalterfahrungen, nämlich Gewalt durch Freunde und Bekannte, in intimen Partnerschaften oder der Familie, gar nicht als solche.
Dieser Wechsel der Sichtweise ist der wichtige, erste Schritt. Dann kannst du deine Lebensentscheidungen neu betrachten: Welche Arbeit du annimmst, wo du wohnst und mit wem, ob und wohin du in den Urlaub fährst. Vieles haben wir einfach akzeptiert und fragen uns gar nicht mehr: Warum tun oder lassen wir das eigentlich? Warum gehen wir nachts nicht mehr auf die Straße?
Wie reagiert eine Frau, die nicht gelernt hat sich zu wehren, auf Widerstand? Durch Rückzug. Oft lassen wir dann die vehementere und lautere Meinung gelten.
Was könnten Frauen stattdessen tun?
Wenn jemand deine Grenze überschreitet, dann handelst du. „Stopp” zu sagen, ist ein guter Anfang. Für viele Frauen ist das nicht selbstverständlich. Aus Angst, weil wir gelernt haben, dass Männer gefährlich sein können. Wenn Männer gefährlich sein können und wir nicht in der Lage sind uns zu wehren, für unsere eigene Sicherheit zu sorgen, ist das eine sehr prekäre Situation. Eine Situation, in der wir Angst haben, uns zurückziehen, kontrollierbar sind.
Ich sage hier „wir Frauen“, was natürlich schwierig ist. Diese Gruppe ist so vielfältig. Viele Frauen sind auf Grund von z. B. Hautfarbe, Religion oder kulturelle Hintergrund mehrfach von Diskriminierung und Gewalt betroffen. Deshalb ist mir wichtig, dass jede Frau und jedes Mädchen die Möglichkeit hat zu lernen, ihre Meinung klar und deutlich zu sagen, ihre Stimme zu erheben, ihre Rechte zu fordern und ein selbstbestimmtes Leben zu führen
Was hat es für dich bedeutet, Raum einzunehmen?
Für mein Leben hat das einen riesen Unterschied gemacht. Bevor ich mit Selbstverteidigung angefangen habe, habe ich auch verbale Übergriffe nicht stoppen können. Ich hatte keine Kontrolle über solche Gespräche – geschweige denn über meinen Körper. Durch Selbstverteidigung und Kampfkunst habe ich eine ganz andere Erwartung an das Leben. Früher habe ich schlicht gehofft, dass mich niemand angreift. Heute ist meine Haltung: Ich erwarte, dass jeder Mensch mich mit Achtung behandelt. Und Achtung ist natürlich keine Einbahnstraße, wenn wir anderen mit Respekt und Achtung begegnen – dann kriegen wir das auch zurück. Wenn wir selbst nicht einmal Achtung erwarten sind wir eine leichte Zielscheibe für Gewalt. Dennoch liegt die Verantwortung für Gewalt immer bei dem Täter oder – in Fällen von Rassismus, Queerfeindlichkeit und anderen Formen der Diskriminierung – auch bei der Täterin. Kurz: Wir brauchen eine neue Norm, eine neue Haltung: Expect respect. Nimm dir deinen Platz.
Was würdest du Frauen antworten, die einwenden, dass sie sich nicht verstellen wollen, um sicher zu sein? Dass sie sein wollen, so wie sie sind?
Ich würde fragen: Wie bist du denn geworden was du bist? Gibt es vielleicht noch andere „Dus“, die du sein könntest? Da braucht es Selbstreflektion. Unsere Rollenverständnisse beeinflussen das Verhalten unserer Körper.
Wenn ich bei meinen Workshops Rollenspiele mache, macht sich die Gruppe, die die Männer spielt, direkt breit und lehnt sich zurück während die, die die Frauen spielen, sich eher klein machen. Dabei sage ich ja gar nichts dazu, wie sie sitzen sollen. Ich sage nur: Ihr spielt jetzt die Männer. Noch viel wichtiger sind Rollenbilder wenn wir gefährliche Situationen nachspielen. Eine Frau sitzt mit einem Partner auf dem Sofa in dessen WG, seine zwei Mitbewohner kommen herein und fragen „wo er sie denn aufgegabelt habe“ und „ob er sie nicht teilen wolle“. Sehr bedrohliche Aussagen. Wie reagieren die beiden auf dem Sofa?
Wenn die Frauen, die den Freund spielen, sich gegen die Mitbewohner stellen tun sie dies interessanterweise sehr aktiv und vehement, stehen auf, schreien und sagen Dinge wie: „Lass die Finger von ihr! Hau ab!“. Aber sobald wir die Rollen wechseln, weiß dieselbe Person, die zuvor den Partner gespielt hat, als Partnerin nicht, wie sie reagieren soll. Sitzt verunsichert da. In der Frauen-zugeordneten Geschlechterrolle fehlen uns Handlungsmöglichkeiten.
Das sehe ich immer wieder: Spielen wir Männer, können wir laut, wütend und bestimmt sein, spielen wir Frauen ist da diese betäubende Hilflosigkeit. Dieser Hemmung müssen wir uns bewusst machen. Das ist der Kern von Selbstverteidigung: Klar zu machen, es fehlt uns nicht an der Fähigkeit! Wir sind im Kopf gehemmt. Das bist nicht einfach du, das ist deine Erziehung, diese Gesellschaft.
Die Einstellung macht den Unterschied
Wir müssen also unsere Einstellung ändern?
Absolut! Jedes Tier wehrt sich von Natur aus. Nur Frauen und Mädchen sind einer derartigen Gehirnwäsche unterzogen, dass wir bis zum letzten Atemzug hoffen, dass der Angreifer uns nicht umbringt. Hoffnung ist keine Strategie. Wir müssen etwas tun, um nicht umgebracht zu werden.
Kommen die Personen die du begleitest in einen Identitätskonflikt – zwischen dem Frau sein und dem stark sein – wenn sie beginnen, ihre Einstellung zu ändern?
Wenn du einmal verstanden hast, was gespielt wird, und dass es nicht zu deinem Vorteil ist, vergisst du das nicht wieder. Neue Verhaltensweisen muss frau definitiv erlernen. Das ist ein Prozess. Ich denke: Erhebe deine Stimme, auch wenn sie zittert! Das ist okay! Sie wird von Mal zu Mal fester. Aber natürlich führt Selbstermächtigung zu Konflikten: Statistisch droht Frauen Gewalt von Partnern nicht nur in der Beziehung sondern vor allem in dem Moment, in dem sie versuchen, die Beziehung zu beenden. In diesem Moment, müssen sich Frauen Hilfe holen können. Deswegen sind Frauenhäuser so wichtig.
Warum ist Selbstbehauptung auch für Frauen wichtig, die keine Angst vor Femiziden haben?
Je mehr Macht wir über unser eigenes Leben haben, je klarer wir uns darüber sind, wer wir sind und was unsere Rechte sind, desto klarer können wir sie nach Außen vertreten.
… und umso besser können wir sie erreichen?
Definitiv. Dich stark zu fühlen, ist ein riesen Vorteil, wenn du etwas erreichen möchtest. Vorstellungsgespräche, Gehaltsverhandlungen, Diskussionen – es gibt keine kleinen, keine unwichtigen Situationen. Jede Situation, die uns kleiner macht als wir sind, ist Opfertraining. Die permanente Erinnerung daran, dass wir keine Macht haben. Stellen wir uns eine Frau vor, die an einem Mann vorbei läuft, der sie einmal von oben bis unten anschaut. Sie merkt es, schaut auf den Boden, läuft vorbei. Es ist nichts ausgesprochen, aber viel gesagt worden. Er: „Ich bin ein Mann, ich kann dich anschauen wie ich mag.“, sie: „Ich sehe dich und ich erkenne deine Macht über mich an.“ – das ist pures Opfertraining, tägliche Machtdemonstrationen.
Was könnte sie stattdessen tun?
Zurück gucken, den Blick nicht abwenden und somit Widerstand leisten. Damit sagst du „Nein, ich erkenne deine Macht nicht an. Ich definiere die Welt nicht, wie du sie haben willst. Das ist auch meine Welt und so geht es nicht weiter.“ Revolution fängt in uns an.
Was ist der beste Schritt, um so ein Verhalten zu erlernen?
Ein antirassistischer, Empowerment-Selbstverteidigungskurs.
Wie hilft so ein Kurs?
Du musst dir der strukturellen Gewalt durch gemeinsame Gespräche bewusstwerden, eine neue Einstellung entwickeln und dann neue Verhaltensweisen ausprobieren und üben. Du musst lernen, dir neue Bilder vorzustellen. Dass du stark sein kannst, handlungsfähig, kreativ, durchsetzungsfähig und erfolgreich. Du musst anfangen zu glauben, dass du es schaffen kannst. Es gibt nicht nur Angriff und Niederlage! Es gibt auch Angriff und Gegenwehr, Verteidigung, Flucht, Widerstand und Siegerinnen.
Was macht einen Kurs antirassistisch und empowernd?
Rassismus gehört dazu, wenn wir über Macht und Gewalt reden. Gerade als weiße Frau muss ich mich auch fragen: Wo nehme ich in dieser Gesellschaft zu viel Platz ein und verdränge dadurch andere Menschen? Wo habe ich die Verantwortung, rassistische Machtstrukturen mit abzubauen? Denn als Begünstigte des Systems ist es auch meine Verantwortung es abzubauen, selbiges gilt für Männer und Sexismus.
Gewalt durchläuft für gewöhnlich fünf Phasen: Planung, Auswahl, Testung, Isolation und Anwendung von körperlicher Gewalt. Selbstverteidigung beginnt nicht erst in der fünften sondern bereits in der ersten Phase. Ein Mann darf gar nicht erst auf die Idee kommen, eine Frau anzugreifen. Wir brauchen einen gesellschaftlichen Wandel dahin, dass Gewalt gegen Frauen als unvereinbar mit der Würde des Menschen, als widerlich, unmenschlich gesehen wird. Wir brauchen eine neue Norm von Respekt in dieser Gesellschaft. Keine Vergewaltigungswitze mehr, keine rassistischen Bemerkungen, keine Salonfähigkeit.
Empowerment-Selbstverteidigung richtet sich gegen strukturelle Gewalt, gegen Gewalt gegen Frauen, Schwarze, Muslime und Juden, LGBTQI*, Menschen mit Behinderung – alle Menschen, haben das Recht in Frieden zu leben. Empowerment-Selbstverteidigung ermöglicht uns, unsere Rechte auf ein selbstbestimmtes Leben frei von Gewalt durchzusetzen.
Weiterlesen
Mit mir nicht!
Selbstverteidigung und Selbstbehauptung im Alltag. Sunny Graff, Orlanda Verlag GmbH, Berlin, 2005.
Solidarität und Überleben
Zu Besuch bei feministischen Antifa-Kampfsportlerinnen. Ayoola Solarin, Vice, 2018.
Media
Ich brauche keinen Retter
Seit Jahrtausenden hält sich der Mythos des „Fräuleins in Not“: eine schöne, junge Frau wird von einem Bösewicht entführt und von einem männlichen Helden gerettet. Dieses Hörspiel sagt dem Mythos den Kampf an und ist noch bis zum 1.Juli 2021 online zu hören.
Handeln
Sunny in der Praxis erleben
Sunnys Verein Frauen in Bewegung bietet Kurse, Workshops und einen Podcast zu Kampfkunst, Selbstverteidigung und Empowerment im Raum Frankfurt.
Selbstbehauptung lernen und lehren
Der Bundesverband feministische Selbstbehauptung und Selbstverteidigung e.V. bietet ein deutschlandweites Netzwerk an Trainerinnen sowie eine Trainerinnenausbildung und Studien.
Autorin: Chiara Marquart-Tabel
Illustration: Isabella Marquart für das transform Magazin
Auch Teil dieser Interview-Reihe
Mehr in der transform No. 7!
Übung macht die – von Geschlechterrollen befreite – Meisterin. In der transform No. 7 stellen wir euch sieben Personen vor, die sich auf verschiedene und inspirierende Arten ihren Körper und ihren Raum zurück holen.
Die neue Ausgabe ist erfolgreich gecrowdfunded und kann hier erworben werden!